Beitrag von YOLANDA zum Schreibprojekt im Februar 2010
20. Februar 2010 von Donna
*Lebensraum*
Sie wusste nicht, wie sie in dieses Zimmer gekommen war… Zögerlich versuchte sie, sich im fast dunklen Raum zurechtzufinden.
Ein Gefühl von Panik erfasste sie. Schon seit ihrer Kindheit hatte sie Angst vor der Dunkelheit; selbst zum Einschlafen brauchte sie immer ein wenig Licht.
Aber sie hatte ihr Leben darauf eingestellt und konnte inzwischen gut damit umgehen, doch in diesem Moment – in dieser unvorhersehbaren Situation fühlte sie, ihr Herz rasen und trotz der Kälte im Zimmer bildeten sich kleine Schweißperlen auf ihrer Stirn.
Nur langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit, tasteten den Raum ab, um eine mögliche Lichtquelle zu finden. Schemenhaft konnte sie die Umrisse einiger Einrichtungsgegenstände ausmachen, die zum Teil mit weißen Laken verhängt waren, um sie vor Staub zu schützen.
Sie versuchte tief durchzuatmen, aber die abgestandene, nach feuchter Erde riechende Luft verstärkte das beklemmende Gefühl, das sie mehr und mehr packte.
Zitternd und innerlich aufgewühlt stand sie minutenlang unbeweglich und lauschte den leisen Geräuschen, die an ihr Ohr drangen.
Gedämpfte Stimmen, metallisches Klappern, rhythmisches Klicken und leises Brummen – bildeten eine bildeten eine Sinfonie, die offensichtlich nur ihrer Fantasie entsprang.
Zaghaft bewegte sie sich etwas. Die alten Bodendielen knarrten und Spinnweben fielen in ihr Gesicht. Hastig fuhr sie sich mit der Hand über ihr Gesicht.
Wo war sie? Sie musste es herausfinden!
Sie streckte eine Hand aus und tastete sich langsam vorwärts bis an eine Wand, an der, schön gerade ausgerichtet, einige Bilderrahmen mit gelblich verblichenen Fotos hingen. Zu ihrer Verwunderung konnte sie trotz der Dunkelheit die Personen auf dem Foto erkennen und erschrak heftig. Es war das Hochzeitsbild ihrer Eltern. Beim Anblick des Fotos schossen Tränen in ihre Augen, waren doch ihre Eltern vor einiger Zeit kurz nacheinander verstorben. Gänsehaut lief ihr über den Rücken, sie fröstelte und dennoch wandte sie sich neugierig dem nächsten Bilderrahmen zu, der ein kleines, fröhlich lachendes Kleinkind zeigte. Sie erkannte sich selbst. Lange Zeit hatte dieses Foto auf dem Schreibtisch ihres Vaters gestanden, bis es durch ein aktuelles ersetzt wurde.
Verstört bewegte sie sich an der Wand entlang, bis plötzlich ihr Knie an etwas Hartes stieß. Mit einer Hand an der Wand abgestützt, tastete die andere den Gegenstand vorsichtig ab – scheinbar ein Stuhl. Doch ruckartig zog sie ihre Hand zurück, als diese etwas seltsam Kaltes berührte. Unsicher fasste sie sich ein Herz und griff zu. Sie konnte es kaum fassen – es war ihre alte Lieblingspuppe mit starr geöffneten Augen, ohne Kleidung, dafür aber mit einem unordentlichen Verband um den Kopf. Vorsichtig legte sie diese wieder auf den Stuhl und versuchte tapfer, aber verschreckt, weitere Gegenstände zu entdecken, die ihr Aufschluss darüber geben könnten, welche Bedeutung dieses Zimmer für sie zu haben schien.
Und sie fand ihren Schulranzen, Briefe – die sie vor Jahren an ihren ersten Freund geschrieben hatte, ihre Lieblingsschuhe, eine verwelkte Rose – die sie als Erinnerung an die erste Verabredung mit ihrem Mann sorgsam aufgehoben hatte und einen Kalender, der mit dem Blatt des heutigen Datums endete.
Ungläubig und betroffen bemühte sie sich, in dieser verworrenen Situation klar zu denken und suchte nach einer Möglichkeit, diesem deprimierenden Raum zu entfliehen. Eine Tür konnte sie nirgends entdecken, doch hinter einer dicken, dunklen Gardine vermutete sie ein Fenster. Mit zittrigen Händen zog sie die staubbedeckte Gardine zu Seite. Ihre Vermutung war richtig, doch das Fenster ließ sich nicht öffnen. Die schmutzigen Scheiben erlaubten ihr nur einen verschwommenen Blick auf die Außenwelt. Dennoch erkannte sie Personen, die auf der Straße vorbeiliefen. Es waren ihre Freunde – Menschen, die ihr vertraut waren und die sich nun mit gesenktem Kopf scheinbar alle in eine Richtung zu bewegen schienen. Verzweifelt hämmerte sie mit den Fäusten gegen die Glasscheiben, doch niemand schien sie zu hören. Sie schrie auf, doch kein Laut kam aus ihrem Mund.
Entmutigt kauerte sie sich auf den Boden. Tränen rannen ihr über das Gesicht. Es war hoffnungslos dieses Zimmer zu verlassen. Sie war jetzt davon überzeugt, hier sterben zu müssen.
Plötzlich war es da – ein sanftes, immer heller werdendes Licht. Warm leuchtend, verlockend und sie hatte das Gefühl von ihm magisch angezogen zu werden. Sie wünschte sich nichts sehnlicher als zu diesem geheimnisvollen Licht zu gelangen. Jetzt hörte sie auch die Stimmen, die nach ihr riefen und sanfte, wohlklingende Musik. Ein Luftzug streichelte ihre Haut. Alle Angst wich von ihr. Sie schloss die Augen. Ihr Körper war vom schimmernden Licht vollständig umgeben.
Waren es Sekunden, Minuten, Stunden oder gar Tage, die vergangen waren? Ihre Lider zuckten, mühsam öffnete sie die Augen – ihr Bewusstsein hatte das leichte Drücken ihrer Hand realisiert und sie nahm einen vertrauten Geruch wahr. Sie erblickte das besorgte Gesicht ihres Mannes, der sich über sie gebeugt hatte und leise mit ihr sprach.
Langsam, ganz langsam begann sich nun der Nebel zu lichten, der ihr Erinnerungsvermögen verschleierte. Bruchstückhaft setzten sich die Puzzelteile wieder zusammen.
Die Warnung vor einem Falschfahrer auf der Autobahn – sie hatte diese plötzlich wieder im Ohr. Zwei Scheinwerfer, die mit rasender Geschwindigkeit auf sie zukamen. Sie schrie – doch es wurde dunkel – so wie in diesem Zimmer, das sie gerade verlassen hatte.
„Du hast es geschafft – du bist zurück im Leben!“ hörte sie ihren Mann flüstern. Ein zaghaftes Lächeln huschte über ihr Gesicht, aber beiden war klar, dass jedoch noch ein langer Weg vor ihnen beiden liegen würde, um zur gewohnten Normalität des Lebens zurückzukehren.
„Die Engel hatten noch keine Zeit für dich! Darüber bin ich so froh!“ Zärtlich strich er über ihre Wange.
Sie nickte kaum merklich und mit einem Seufzer auf den Lippen fiel sie in einen ruhigen Schlaf.
©Yolanda