Beitrag von FRANCIS zum Schreibprojekt im April 2010
17. April 2010 von Donna
REISELUST
Viel Zeit blieb nicht mehr. Schon in wenigen Stunden würde die Tür endgültig hinter ihr zuschlagen. Das Ticket war bezahlt. Die Reise war geplant. Sie würde lange Zeit weg sein. Nur noch diese eine Sache war zu klären und diese eine Sache bereitete ihr Magenschmerzen. Es war völlig banal: Ein Gespräch mit ihrer Mutter. Nichts weiter! Niemand ahnte, wie schwer ihr das fiel, dieses Zusammentreffen nach so vielen Jahren. Sie musste einen Moment nachdenken: Es waren 15 Jahre vergangen. Fünfzehn!
Ihre Mutter hatte die seltene „Begabung“, Menschen auszupressen, das letzte bisschen Saft, wenn man bei diesem Bild bleiben wollte, auszudrücken, um dann, ganz enttäuscht und in kaltblütig herzloser Art und Weise und auf seltsame Art unberührt und kalt zu sagen: „Ach, das war es schon?“. Nun war sie alt – die Mutter. Ob sie sich verändert hatte? Als sie damals nach Kanada ausgewandert war, hatte sie sehr jugendlich ausgesehen. Fast schon eine Schönheit. Sie hätte problemlos Model für eine Anti-Falten-Creme werden können, denn mit 60 Jahren war ihre Haut noch so glatt und rosig, dass man neidisch hätte werden können. Nachdem sie gegangen war, machte sich eine tiefe Leere in dem Leben der Tochter breit. Ihr war es irgendwie völlig entgangen, mit welcher Liebe sie an der Mutter gehangen hatte. Der Verlust bescherte ihr eine Krankheit, mit der sie noch immer zeitweise kämpfte: Magersucht. Damals hatte sie sich aus eigener Kraft aus diesem Tief wieder herausgekämpft. Sie war stolz darauf, keinen Arzt gebraucht zu haben. Nun war die Mutter wieder hier. „Zum Sterben kommt sie nach Hause. So wie Jacques Brel…“, dachte sie. Fast wie in einem schlechten amerikanischen Schinken. Doch dies war die Realität. Und sie stand vor der Zimmertür und war gespannt darauf, was sie der Mutter sagen würde – was diese antworten würde…
Sie klopfte an. Dritte Etage, Raum 316. So stand es auf ihrem Zettel. Das Zimmer war leer, hatte sie sich in der Tür geirrt? Ratlos wanderte ihr Blick von ihrem Zettel zu dem Namensschild neben der Tür. Der Name, den sie suchte, fehlte. Eine Krankenschwester kam ihr entgegen, blickte etwas seltsam, fast beschämt, oder irrte sie sich?
Frau M.? Patientin M.? Nun…sie ist heute Morgen leider verstorben. Möchten Sie sie noch einmal sehen?
???
Nein! Sie wollte sie nicht noch einmal sehen. Sie flüchtete. Vorbei an der jungen Krankenschwester, die Treppe hinunter. Tränen liefen über ihr Gesicht. So hatte sie sich das nicht vorgestellt!!! Schon wieder – und dieses Mal endgültig – war sie ihr „davongekommen“. Keine Aussprache. Keine Vorwürfe. Keine Vorhaltungen. Verständnislosigkeit. Wortlosigkeit. Herzlosigkeit.
Sie rannte aus dem Haupausgang des Klinikgebäudes hinaus, suchte verzweifelt einen Ort, an dem sie alleine sein konnte mit sich und dem Gefühlschaos in sich drin. Blind vor Tränen lief sie in den Park neben dem Krankenhaus, warf sich auf die erste Bank, die sie finden konnte und weinte. Zwischendrin lachte sie. Sie war seltsam befreit und doch wieder nicht. Langsam beruhigte sie sich und nun schämte sie sich doch ein wenig für ihren emotionalen Ausbruch. Sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen: Ihre Mutter war tot und sie saß hier und versuchte, diese Neuigkeit mit ihrer Gefühlswelt zu koordinieren – was ihr misslang. Sie hatte sie so lange Jahre nicht gesehen, nicht gesprochen, nicht gewusst, wo sie war, was sie gemacht hatte, dann dieser Anruf vor zwei Wochen: Ich komme nach Hause – kommst du mich besuchen? Ich habe nicht mehr viel Zeit. Nun wusste jeder, der sie gekannt hatte, dass sie zu Übertreibungen neigte. Sie hatte sich stets bester Gesundheit erfreut, doch dieses immer wieder geschickt „verdeckt“, damit jeder sie auch immer bemitleiden sollte. Und nun war sie tot und die Tochter saß eher fassungslos als voller Schmerz auf dieser Parkbank und schaute mit ratlosem Blick vor sich hin…
Plötzlich hob sie den Kopf. Sie beobachtete eine Szene, die sich in einiger Entfernung von ihr abspielte und die sie von ihrem Kummer ablenkte: Eine ältere Dame saß in einem Rollstuhl und wurde von einer jungen Frau geschoben. Nichts Besonderes. Die ältere Dame verhielt sich nicht besonders nett zu der jungen Frau, sie schien sie zu maßregeln, redete mit lauter Stimme. Die Worte schienen die Frau, die den Rollstuhl schob, zu verletzen. Sie ließ den Kopf hängen, selbst aus dieser Entfernung konnte man erkennen, dass die Worte der Alten die Junge sichtlich verletzten.
Die junge Frau kam ihr bekannt vor, sie erinnerte sie an jemanden. Sie schloss kurz die Augen, öffnete sie wieder. Die Szene war verschwunden. Sie schloss erneut die Augen und sah die Szene wieder vor ihrem inneren Auge. Sie erkannte sich selbst und plötzlich fühlte sie sich frei.
Sie musste sich nicht mehr rechtfertigen. Es war vorbei. Für immer.
Sie schloss die Augen erneut. Die Szene sah sie nicht noch einmal.
Sie nahm ihre Tasche und verließ den Park, ging zu ihrem Auto. Ihr Mann hatte auf sie gewartete. Das Gepäck auf der Rücksitzbank erinnerte sie an die Reise, die vor ihnen beiden lag.
Er lächelte sie an, wie nur er es konnte – voller Wärme und Verständnis.
„Geht es dir gut?“, fragte er sie. Sie lächelte nur und fühlte, wie sich ein tiefes Glücksgefühl in ihr ausbreitete.
Die Frauen im Park hat sie nie wieder gesehen.