Beitrag von DONNA zum Schreibprojekt im März 2010
20. März 2010 von Donna
Gold schürfen
Ein Lächeln, zart wie die ersten Sonnenstrahlen des herannahenden Frühjahrs huschte über ihr Gesicht, als sie aufstand, um sich in die Leseliste einzutragen. Mit sicherer Hand und schwungvoller Schrift setzte sie ihren Namen – ‚Marlin von Kremm‘ – unter die der anderen Hobbyautoren, die an diesem Abend im Literaturforum Kostproben ihres Schaffens präsentieren würden. Beherzt schrieb sie daneben ‚Romananfang‘. Leichten Schrittes und mit einem Selbstbewusstsein, das man bei so jungen Frauen nicht häufig beobachten kann, bewegte sie sich zurück zu ihrem Platz, trank von dem Mineralwasser und zog das Manuskript aus der Tasche. Sie legte es auf den Tisch, wuschelte einmal kurz durch ihr Haar, zupfte die Bluse zurecht und schaute sich ruhigen Blickes um.
Ich schätzte ihr Alter auf 18 Jahre. Sie war mittelgroß, schlank und auffallend hübsch. ‚Wenn sie jetzt auch noch Talent beim Schreiben zeigt…‘, dachte ich und musste aufpassen, dass mein Interesse an ihr nicht zu offensichtlich wurde. Dann wurde ich abgelenkt. Die Veranstalter begrüßten mich und einige Autoren, die ich kannte und die gerne mit mir ins Gespräch kamen. Das Publikum schwatze vor sich hin, einige Zuhörer trafen noch ein in letzter Minute und suchten sich einen Platz.
Mit einem kleinen musikalischen Auftakt begann die Lesung. Und dann lauschte ich den Beiträgen voller Ungeduld, sah freundlich hinweg über unreine Reime und holprige Metren, störte mich nicht an der Kurzgeschichte, die eigentlich eine Anekdote mit Märchenelementen war, und konnte sogar schmunzeln über den Autobahnblues, der empathisch und spuckesprühend vorgetragen wurde. So nachsichtig konnte ich sein, weil ich ahnte – nein, ich wusste es! -, dass Marlina von Kremm etwas ganz Besonderes darbieten würde. Ich kannte das, verglich es mit dem Goldschürfen, bei dem Tonnen von Gestein notwendig waren, um ein paar Unzen Gold zu gewinnen.
Und da war es wieder, dieses zarte Lächeln. Sie stand da an dem Lesepult, als wenn sie in ihrem ganzen Leben nichts anderes gemacht hätte. Mit einer angenehm kräftigen und sicheren Stimme begann sie zu lesen, zog die Zuhörer vom ersten Satz an in ihren Bann, weil sie nicht nur durch gekonnte Intonation, sondern quasi mit ganzem Körpereinsatz dabei war. Ich hing förmlich an ihren Lippen, an ihren Gesten und tauchte ein in die von ihr geschaffene Welt, die sich leise und behutsam entfaltete. Stundenlang hätte ich schauen und lauschen können, aber nach zehn Minuten Lesezeit endete sie gekonnt mit den Zeilen ‚Nein, Müsli mag ich wirklich nicht!‘ Sie stand da, nahm den Applaus entgegen und wir alle gingen in die Pause.
Wieder wurde ich angesprochen und in Gespräche verwickelt, so dass es mir fast unmöglich erschien, an ein weiteres Getränk zu kommen. Endlich konnte ich mich loseisen und ging auf den kleinen angrenzenden Bistrobereich zu, als ich sie wiedersah. Was war geschehen? Wie ein Häufchen Elend stand sie weinend einem abgerissenen Typen gegenüber, der beschwichtigend auf sie einredete. Und da hörte nicht nur ich sie verzweifelt und laut schreien: „Was willst du hier, du Penner, du Arsch, was willst du noch von mir? Hau ab!“ Der junge Mann verschwand ohne ein weiteres Wort, sie sah ihm nach, so als wolle sie gar nicht, dass er geht. Erschrocken über ihre verbale und emotionale Entgleisung und alle Blicke der Anwesenden auf sie gerichtet, flüchtete sie in die Toilettenräume.
Und ich? Tja, ich war auch an diesem Abend wieder auf der Suche nach verheißungsvollen Nachwuchstalenten im Auftrag einer der renommiertesten Verlage. Ich sagte ja schon: Goldschürfen, Jagd auf junge Autoren, die sich nicht scheuten, auch nasse Landstriche zu betreten. Marlin von Kremm hatte dieses Potenzial, das war offensichtlich, hatte sie doch einige Facetten ihrer Persönlichkeit an diesem Abend gezeigt.
Der zweite Teil der Lesung hatte bereits begonnen. Ich wartete geduldig und unauffällig in der Nähe der Tür, durch die sie irgendwann – und bei Frauen konnte das auch schon mal länger dauern nach solch einem Zwischenfall – kommen musste. Vorsichtshalber hielt ich meine Visitenkarte schon bereit. Dieses Mädel sollte mir nicht entwischen, diesen neuen Star am Bücherhimmel würde ich aufbauen. Und wenn sie mitzog, waren bestimmt zwei bis drei Bestseller drin. Das Gesamtpaket stimmte, der Rest würde sich ergeben…
„Frau von Kremm, darf ich mich kurz vorstellen…“, sprach ich sie an und blickte in das Gesicht einer verletzten jungen Frau, deren Stolz und Kampfgeist mich zugleich tief berührten.
„Ja, bitte…“ antwortete sie höflich.