Beitrag von DONNA zu Donnas Schreibprojekt
24. Juli 2009 von Donna
INSGEHEIM
Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal…Nein, wirklich nicht, sein Gedächtnis ließ ihn jämmerlich im Stich. Seit gut einem Jahr lebte er nun in diesem Seniorenstift. Es war ihm schwer gefallen, seine vertraute Umgebung aufzugeben und sich hier in einem kleinen 2-Zimmer-Appartement einzugewöhnen. So viele Dinge hatte er zurücklassen müssen, hatte sich entscheiden müssen, was er mitnehmen wollte oder besser konnte. “Es ist ein bisschen wie sterben”, hatte er zu seinen Kindern gesagt, die nicht müde wurden, all die Vorteile aufzuzählen, die sein neues Leben mit sich bringen würde. Es dauerte einige Zeit, bis er sich mit der Situation abgefunden hatte. Die Tage schienen sich oft endlos lange hinzuziehen und obwohl er viel las, spazieren ging, Kontakte pflegte mit Mitbewohnern, verspürte er eine vorher nie gekannte Langeweile und Lebensüberdruss. Immer häufiger ertappte er sich, wie er seine Tage plante, wie er sich gezielt überlegte, mit welchen Aktivitäten er sie füllen könnte.
Und dann? Er hatte nicht gewusst, dass Neugier ihn dermaßen beflügeln konnte. Die kleine Wohnung am anderen Ende des Flures war vor einigen Wochen frei geworden. Seitdem gingen dort die Handwerker ein und aus. Die Türen standen tagsüber auf, es wurde gehämmert, gesägt, gebohrt. Gespannt verfolgte er die komplette Renovierung. Ja, er war auf dem Laufenden, hatte viele Gelegenheiten genutzt, um sich persönlich einen Eindruck zu verschaffen und fand auch, als der Maler endlich fertig war, dass alles sehr geschmackvoll hergerichtet worden war.
Wer würde dort einziehen? Diese Frage beschäftigte ihn ungemein. Sie sollte schnell beantwortet werden, denn schon zwei Tage später stand ein Möbelwagen vor der Tür. Sieben kurze Spaziergänge unternahm er an diesem Tag, um einen Vorwand zu haben, den Fortschritt des Umzugsgeschehens verfolgen zu können. Worauf er wirklich lauerte, war, endlich der Person zu begegnen, die hier wohnen würde.
Enttäuscht und ein wenig missmutig saß er abends vor dem Fernseher. Er zappte durch die Programme, als es auf einmal mehrmals laut an seiner Tür klopfte. Als er öffnete, stand ein hochgewachsener, leicht vollschlanker älterer Herr da. Mit der rechten Hand stützte er sich auf einen Stock, in der anderen Hand hielt er eine Flasche Portwein. “Ich bin der Neue, Georg Tiedemann, spielen Sie Schach? Ich dachte, wir trinken schon mal so’n Kleinen vorweg, auf gute Nachbarschaft sozusagen…” Fassungslos sah er den Mann an, es verschlug ihm die Sprache, so dass eine unangenehme Stille entstand. Herr Tiedemann reagierte dann aber auf die Stummheit seines Gegenübers. Um einiges lauter und deutlicher in der Aussprache begann er erneut: “Ich wohne jetzt hier, ich bin der Neue…”
Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal so enttäuscht gewesen war. Hatte er doch in den letzten Wochen insgeheim damit gerechnet, dass eine bezaubernde kleine Lady da einziehen würde. Was hatte er sich alles ausgemalt…interessante Gespräche, Theaterbesuche, eine gemeinsame Reise, das eine oder andere abendliche Gläschen Rotwein bei Kerzenschein, vielleicht sogar ein wenig Zärtlichkeit… All das schwirrte in Windeseile in seinem Kopf umher und nur im Zeitlupentempo gewann er seine Fassung wieder.
Steif und förmlich hörte er sich sagen: “Kommen Sie bitte rein, Herr Tiedemann, ich bin nicht schwerhörig.”